Dr. Bernd Schwarze
Lübecker Knabenkantorei Weihnachtssingen 2004
„Das Wunder von Bethlehem“ - SAT 1 / Wolke Sieben Filmproduktion
Aus dem Protokoll des Aufnahmeleiters - Dezember 2004


(Teil1)
Nun auch noch Schreibarbeiten nach Drehschluss. Der Hansi hat’s angeordnet. Ziemlich kalt draußen, sind nur noch ein paar Tage bis Weihnachten. Die Standheizung funktioniert ja ganz gut im Fiat Multidorm Rimini. An den Wohnmobilen wird nicht gespart. Und die Heidi von der Ausstattung hat uns allen Adventsgestecke hingestellt und Lichterketten an den kleinen Fenstern angebracht. Kitschig, klar, aber ich steh irgendwie drauf. Trotzdem wäre ich jetzt lieber mit dem Team zum Glühweintrinken auf dem Weihnachtsmarkt. Aber der Hansi, unser Regisseur, hat mich durch seine schwarzumrandete Brille wieder mal so stechend angeschaut und gesagt: „Schreib mal auf. Alles, was so passiert. Was gut läuft, was schief geht. Vielleicht brauchen wir das fürs Making Of.“

So ähnlich läuft das eigentlich immer. Aufnahmeleiter, das klingt so bedeutend. Ist im Grunde aber nichts anderes als Universaldepp für all die Sachen, für die sonst niemand da ist im Team. Ich bin es, der bei wildfremden Leuten klingelt und fragt, ob wir im Esszimmer mal ‘ne Szene drehen können. Der denen glaubwürdig erzählt, dass wir fast gar nichts kaputt machen, wenn wir die Schienen für die Kamerafahrt durch den Flur legen. Der dann mit der Versicherung telefonieren muss wegen der chinesischen Vase. Und wenn sich bei der Abendessen-Szene die Hauptdarstellerin achtmal verhaspelt, dann ist das wieder mein Job, vierundzwanzig Mal Schnitzel mit Pommes und Gemüse bereitzuhalten. So war das jedenfalls bei „Claudia - ein Leben für die Liebe“, dem Blockbuster-Dreiteiler, der im Sommer lief. Straßen absperren, Komparsen bestellen, Hotelzimmer buchen ... all sowas.
Und jetzt: „Das Wunder von Bethlehem“. Angeregt und unterstützt von der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofkonferenz. Die Kirchenoberen haben sich von ihren Medienbeauftragten beraten lassen und sind nach monatelangen Gesprächen zu einem Entschluss gekommen: Man muss den Leuten, die in Sachen Religion immer weniger wissen, die basics in vertrauter und leicht zugänglicher Form anbieten. Da gab’s dann auch ein Strategiepapier, da standen ganz tolle Sachen drin, wie: „sinnlich-ganzheitliche Alphabetisierung der Glaubens-Identität.“ Na ja, wenn’s hilft.

Und dann gab’s Zeitdruck. Das ganze sollte rechtzeitig zum Fest noch in die Kiste. Theologen und Drehbuchautoren haben eng zusammengearbeitet. Der Produktionschef schlug als Arbeitstitel vor: „Der Heiland. Es kann nur einen geben.“ Aber das haben sie zum Glück noch geändert. „Das Wunder von Bethlehem“ - klingt zwar auch wie schon mal gehabt, kommt aber besser rüber. Erst wollten sie’s da unten in Palästina oder so drehen, an Originalschauplätzen sozusagen. War dann aber zu riskant und auch zu teuer. Und dann ist die schleswig-holsteinische Filmförderung groß mit eingestiegen. Und dann wurde entschieden: Das Ding wird in Lübeck gemacht. Lübeck sei sowieso die neue Filmstadt des Nordens. Und die Stadtvertreter haben sich gefreut, weil sie glauben: das bringt Punkte bei der Bewerbung für die Kulturhauptstadt 2010.

Und nun steht unser Fuhrpark mit der ganzen Technik, mit den Schmink- und Garderobenwagen auf diesem Platz zwischen dem Buddenbrookhaus und der Marienkirche. Und ich - ein bisschen vorweihnachtlich gestimmt - sitze in meinem Fiat Multidorm Rimini mit frischem Kaffee und Vanillekipferln und denke nach: über unsere Arbeit, unser Leben und das Wunder von Bethlehem.
Teil 2:
Was sind das für Menschen, was sind das für Gestalten in dieser Geschichte: das so genannte hochheilige Paar, das Kind, die Hirten, die Weisen aus dem Morgenlande? Ich glaube, da hat jeder von uns so ein eigenes Bild im Kopf. Da tragen wir Gesichter ein und Haltungen, Begegnungen, Glücks- und Unglückserfahrungen. Das gilt wohl für fast jede Geschichte, die wir lesen. Aber bei diesen Bibelgeschichten ist das noch intensiver, weil da was dran ist, das einem richtig ans Herz geht. Und so wurde auch bei unserem Film das Casting, die Rollenbesetzung, zu einer stressigen Angelegenheit.
Erst wollten sie diese kleine Türkin, die gerade die ganzen Filmpreise abräumt, für die Rolle der Maria haben. Dann hat aber so ein frommer Typ von der evangelischen Synode gesagt, dass das nicht geht, weil die Muslimin sei und außerdem hätte die früher so Schweinkram gemacht. Der hat vielleicht Probleme! Andauernd reden sie von Nächstenliebe, Vergebung und Toleranz, und wenn’s dann ernst wird, dann läuft alles nach altbewährtem Muster.
Schließlich haben sie entschieden, Schauspieler zu nehmen, die genau so heißen - also die gleichen Vornamen haben - wie die Figuren in der Geschichte. Und darum spielt nun eine Tatort-Kommissarin, die ich ein bisschen zu blond für die Rolle finde, die Maria. Und der Josef kommt auch aus einer Krimiserie. Der spielt da einen Gerichtsmediziner. Passt ja wie die Faust aufs Auge. Und als dann kürzlich noch die Angetraute eines argentinischen Fußballspielers aus der Bundesliga einen kleinen Jesús zur Welt gebracht hat und gar nicht genug davon kriegen konnte, ihn in der Öffentlichkeit zu präsentieren, da war auch die Besetzung des Kindes in der Krippe schon bald beschlossene Sache. Bei den drei Königen hat man dann mit dem Grundsatz gebrochen. Keine Agentur in Deutschland hatte einen Schauspieler mit Namen Melchior auf der Liste.
Mein Job war es nun wieder, die Drehorte auszusuchen. Und das war ganz schön schwierig. Wie denn das gehen soll, wollte ich von Hansi wissen ..., wie das gehen soll, in einer norddeutschen Stadt im 21. Jahrhundert locations ausfindig zu machen für Wüstenszenen aus uralter Zeit. Doch mein lieber Regisseur dehnte nur einmal kurz seinen schwarzen Rollkragen und sagte: „Mach mal. Die Zuschauer sollen die Brechung der Zeit ruhig miterleben. Es schadet gar nichts, wenn die hochschwangere Maria auf dem Eselchen unter Lichterketten hindurch an einem Geiz-ist-Geil-Plakat vorbei reitet.“ Na, dann habe ich die Gegend ausgekundschaftet. Auf der Wallhalbinsel, gleich hinter der Musik- und Kongresshalle, war so ein Gelände, wie geschaffen für die Bethlehem-Szene. Selbstgebaute Schuppen und Bauwagen, und aus den Blechschornsteinen stieg ganz heimelig der Qualm der Bolleröfen empor. Das Mädchen mit den strubbeligen grünen Haaren, das ich fragte, antwortete mir: „Ich fänd’ das voll krass, wenn ihr die Stallszene bei uns drehen würdet. Nur weiß ich leider selber nicht, wie lange wir hier noch Raum in der Herberge haben.“

Nach tausend Orten und tausend Verhandlungen bin ich schließlich in der Marienkirche gelandet. Ich hab mich zuerst gar nicht getraut. So ein unglaublicher Raum. Aber der Pastor, mit dem ich gesprochen habe, der fand das ganz toll. Er meinte, man bräuchte so schräge Einstiege und ungewöhnliche Perspektiven, um alte Geschichten in neuer Zeit zu erzählen. Und die Szene an einem Ort geschehen zu lassen, den es gar nicht gäbe, wenn diese Geschichte nicht passiert wäre, das fand er (Zitat) „hypertroph, aber wirkungsvoll“. Hypertroph aber wirkungsvoll. Der sollte mal frische Luft schnappen. Die Küsterin von St. Marien war auch sehr nett zu uns. Nur als die Hirten reinkamen mit ihren Schafen, da hielt sie denen mit strengem Blick Schaufel und Eimer entgegen und sagte: „Aber den Dreck macht ihr selber weg. Oder ihr geht nach Aegidien. - Alles war bereit, und bis dahin schon recht aufregend gewesen. Aber es war noch gar nichts gegen das, was noch kommen sollte.
(Teil 3)
Es war gestern, am Dienstag (Mittwoch). Die halbe Nacht hatten Werner und Dirk mit Sackleinen und unbehandeltem Holz schon ein kleines Wunder vollbracht. Den Altartisch auf den Stufen, der ein bisschen so aussieht, als sei da einer durchgekracht, haben sie zu einem beeindruckenden Stall umgebaut. Und man höre und staune: ohne irgendwas kaputtzumachen. Heidi hatte Gesteinsbrocken und künstlichen Schnee besorgt. Es sah ergreifend aus. Beleuchtung, Ton und Kameras, alles war gecheckt, die Atmosphäre am Set von höchster Konzentration. „Wunder von Bethlehem, 165, die erste“, tönt Anjas Stimme, und das Knallgeräusch der Klappe hallt noch eine Weile nach.

Am linken Rand des nach vorn hin offenen Stalls sitzt Maria auf einem Polster aus Heu. Sie macht ihre Sache sehr gut. Dieser Gesichtsausdruck, der zugleich totale Erschöpfung und tiefstes Glück enthält. Obwohl es recht kalt ist, läuft eine Schweißperle an ihrer Schläfe herab. Sie hat ja auch im richtigen Leben schon Kinder zur Welt gebracht. Jesús hatte am Anfang noch Probleme. Mama musste gelegentlich mit dem Fläschchen dazwischen kommen, weil er ziemlich heftig schrie, aber jetzt liegt er ganz ruhig in seiner Krippe. Und Josef schaut so ein bisschen abwesend drein, als gehöre er nicht richtig dazu. Das hat sich Hansi für ihn ausgedacht.

Das ist schon alles sehr schön so. Doch mit einemmal wird alles anders. Gerade als die Hirten von links und die Könige von rechts auf die Szene zumarschieren wollen: da ist so ein Ton im Raum, so ein unbeschreiblich zartes, rundes O, wie ein Gesang und doch nicht wie ein Gesang. Ich halte Ausschau, ob uns schon die Knaben von der Kantorei überraschen, doch deren Einspielung für den Soundtrack ist ja erst für den nächsten Abend geplant. Und dann fängt ein Licht meinen Blick wieder ein. Rund um den Stall und die heilige Familie ein sanftes, warmes Leuchten, keine Blendung, sondern ein ganz verhaltenes Strahlen, das mich, ja uns alle, total mit Glück erfüllt. Hansi, der Regisseur, flüstert dem Beleuchter zu: „Hey, das war nicht abgesprochen.“ Doch Harry zuckt mit den Schultern und sagt: „Ich bin das nicht.“ Und erst Minuten später schwindet der Ton, erlischt das zauberhafte Licht.

Wir haben noch eine ganze Zeit darüber gesprochen. Und waren dabei so heiter wie schon lange nicht mehr. Einige Techniker blieben skeptisch, murmelten was von Nordlichtern und atmosphärischen Störungen. Ich habe einen anderen Erklärungsversuch: Du kannst die großen Geschichten, die unsere Kultur geprägt haben, glauben oder nicht glauben, du kannst sie stören, verfremden, parodieren, du kannst sie runterbrechen zu leichten Erzählungen oder zu billiger Fernsehunterhaltung. Du kannst sie aber nicht daran hindern, zu wirken und direkt in die Herzen zu wandern. Manchmal bricht einfach was durch, etwas Himmlisches, in unsere ach so abgeklärte, durchgeplante Welt. Und wenn dieses Himmlische dann noch eine so menschliche Botschaft hat wie die Weihnachtsgeschichte, dann können schöne Dinge passieren.

Ich weiß nicht, irgendwie ist seit gestern Abend alles nicht mehr so zynisch und so zickig bei uns am Set. Naja, die Dreharbeiten sind ja auch fast schon vorbei. Maria und Josef sind wohl schon bei ihren Familien zu Hause. Und Jesús wird in ein paar Tagen zum ersten Mal die Lichter eines Tannenbaums bestaunen. Und wir anderen? Also mit Familie und festen Bindungen ist das nicht so einfach beim Film. Diese ganze Rumreiserei und der ganze Stress. In den vergangenen Jahren haben immer alle zugesehen, dass sie noch last minute was kriegen, Fuerte, Lanzarote oder so. Diesmal haben Werner, Dirk, Heidi, Anja, Harry und ich - und sogar Hansi - beschlossen: wir feiern zusammen. Wir kochen was, erzählen uns Dinge, über die wir sonst nie gesprochen haben, unsere Träume und so. Vielleicht gehen wir sogar in die Kirche am späten Abend. Haben wir ewig nicht gemacht. Bisschen entspannen jedenfalls. Das nächste Projekt, noch so ein Kirchending für Ostern, steht bald an. „Am dritten Tag. Das Grab der guten Hoffnung.“ Allerdings für RTL.

Es ist spät geworden. Durch die Wand meines Wohnmobils höre ich schon wieder so schöne Musik. Ach so, der Soundtrack, die Filmmusik-Aufnahmen in St. Marien. Da geh ich noch mal rüber. Wenigstens den Schlusschor für den Abspann, das wunderschöne „O du fröhliche“ von der Knabenkantorei, das muss ich noch hören. Und dann - dann kann von mir aus Weihnachten werden.